14.08.2015 Elma – Seattle, 116 km

In der Nacht ist ein Gewitter über Elma gezogen. Es hat zwar nicht fest geregnet, aber die Donner waren hörbar. Am Morgen ist das Zelt nass und auch die ganze Umgebung. So müssen wir auf der Bank neben dem Toilettenhäuschen unser Frühstück einnehmen. Es ist alles ein bisschen umständlicher, wenn man die Sachen nicht einfach ausbreiten und einpacken kann. Auch heute sind wir früh aufgestanden, wieder um halb sechs, so dass wir um 7.45h auf der Strasse sind. Es ist neblig und feucht, es sprinkelt aus dem Nebel, aber es regnet nicht. Wir fahren auf eine Nebenstrasse und die ersten Kilometer sind sehr ruhig. Mir geht es heute wieder einmal nicht so ring – ist es weil das Wetter nicht so ist wie bisher? Ist es weil es unser letzter Tourentag ist? Ist es weil uns wieder eine lange Etappe bevor steht? Oder ist es wegen dem rauhen Strassenbelag? Ich tippe aufs Letztere und ich meine auch, dass ich nicht ganz daneben bin mit diesem Tipp. Doch Ariane klärt mich noch etwas mehr auf, denn wir fahren die ersten ca. 20 Kilometer bergauf, wenn auch kaum sichtbar, dann eben sehr spürbar. Meine Beine sind schwer…

Nach ca. 18 Kilometer stoppen wir wieder einmal bei einem ach so typischen, kleinen Laden irgendwo weit weg von jeglicher Zivilisation. Zwei Frauen sitzen vor dem Laden, trinken Kaffee, rauchen eine Zigarette und quatschen wohl über die wenigen Kunden welche hier zwischendurch ihren Halt machen. Sie sind beide sehr interessiert und aufgestellt. Als erstes wird uns ein Gästebuch für Velofahrer hin geschoben, wir sollen doch bitte etwas rein schreiben. Erst gestern ist ein Radfahrer hier durch gekommen und er ist sage und schreibe der erste im Gästebuch. Entweder haben sie gerade erst eines voll gemacht, oder eben erst gestern entschieden überhaupt ein Radler-Gästebuch zu führen. Die Kinder kaufen sich Orangensaft und einen Hamburger aus der Mikrowelle (schmeckt übrigens genau gleich wie jene vom weltbekannten Laden mit dem goldenen „M“ ;-). Ariane und ich wärmen uns mit einem Kaffee und ich versuche eine „pickeld saussage“ – eine Wurst, eingelegt in Essig. Diese Würste stehen in einem riesigen „Nutella-Glas“ (also es sieht so aus) neben der Kasse, der Essig ist rot, genau gleich wie die Würste. Schaudrig anzuschauen, gewöhnungsbedürftig zum Essen. Gut habe ich es ausprobiert, dann muss ich es kein zweites Mal 😉

Es geht auf ein weiteres Teilstück, auch heute wieder meist im Wald und zum Glück ohne grossen Verkehr. In Shelton treffen wir wie aus dem Nichts wieder auf eine Blechlawine und es macht sofort keinen Spass mehr hier zu radeln. Die Kinder entdecken einen wunderbaren Spielplatz und wir legen nach ca. 40 Kilometern die zweite Pause ein. Hier essen wir unseren Lunch, auch wenn es noch nicht einmal 11.00h ist. Die Kinder spielen ein bisschen und ca. 40 Minuten später sind wir schon wieder auf den Velos. Die Wolken rund um uns herum sind sehr schwarz und wir packen die Kinder schon mal in ihre Regenklamotten. Und das ist auch gut so… Einige Kilometer „down the road“ beginnt es zu regnen und immer stärker bis es wie aus einem Platzregen von oben herab kommt. Wir stehen unter ein paar Bäume bei einer Hauseinfahrt und hoffen auf schnelles Vorüberziehen dieses Gewitterregens. Doch da haben wir falsch gehofft, der Platzregen will sich nicht zu einem Nieselregen zurück bilden – es gefällt ihm offensichtlich. Wir schauen auf den Fähr-Fahrplan, wir wollen nämlich in Bremerton die Fähre nach Seattle nehmen. Es liegen noch gut 45 Kilometer vor uns (denken wir, es sind tatsächlich noch knapp 65 Kilometer), 50 haben wir bereits abgestrampelt. In 3 Stunden legt eine Fähre ab und danach wieder in 4 Stunden und 20 Minuten. 45 Kilometer, sagen wir uns, sollten wir in 3 Stunden schaffen. Kommt natürlich aufs Gelände an, aber auf der Karte sieht es nicht wirklich schlimm aus. Doch dann sollten wir jetzt los radeln. Bis wir schliesslich wieder auf der Strasse sind, vergehen doch noch gute 10 Minuten.

Und nun wird es heftig, es prasselt auf uns herunter wie weit über uns jemand die Schleusen, welche die letzten 3 Monate geschlossen waren, auf einmal aufmachen würde. Wir haben unsere gelb leuchtenden Regenjacken montiert. Ausser den Shorts haben wir unsere Schuhüberzüge angezogen. Die wären nicht schlecht dicht, doch bei diesem Regen füllen sie sich halt von oben. Ohne Regenhosen tröpfelt das Wasser natürlich den Beinen nach in die Schuhe. Bis zum Schluss haben wir einen richtigen See in unseren Schuhen. Zwischendurch fahren wir wieder einmal durch ein kleines Städtchen und mitten im dichten Verkehr. Nun kommt noch die Aufregung wegen den knapp überholenden Autos und Lastwagen. Und immer noch hat der Regen kein bisschen nachgelassen. Wenigstens können wir wieder auf eine Nebenstrasse ausweichen und wir versuchen wirklich Tempo zu machen. Heute ist einfach Kilometer-Fressen angesagt. Doch bald schon kommt das schlechte Gewissen – „was tun wir unseren Kindern vorne auf dem Fahrrad an?“ Doch Alani singt ununterbrochen und Lorin hat sich so gut eingepackt, die Augen geschlossen und tritt einfach grossartig in die Pedalen. Und dennoch nagt das schlechte Gewissen. Bei diesem unglaublichen Regen geht keiner, aber auch wirklich keiner auch nur zu seinem Briefkasten vor dem Haus. Geschweige denn Radfahren und erst noch mit den Kindern als „Kühlerfigur“.

Nach endlosen und absolut nassen Kilometern erreichen wir endlich die Stadtgrenze zu Bremerton. Hier müssen wir nur noch unten auf die Schnellstrasse und dann beim Hafen vorbei zur Fähre. Es ist halb drei und es sollte reichen. Doch mein GPS bringt uns nun auf die unglaublichsten und steilsten Strassen auf der ganzen Tour, vielleicht die steilsten seit wir je auf Velotouren sind. Doch mit der Hoffnung, es auf die 15.00h Fähre zu schaffen powern wir uns diese Rampen einfach nur rauf. Ich schreie nach vorne um Alani anzufeuern – und selber gehe ich fast drauf. Doch irgendwie schaffen wir es auf den Hügel, nur um zu sehen, dass es noch weiter rauf geht. Irgendwann dann, geht es auch wieder bergab. Und nun stecken wir zuunterst am Hügel fest. Der Vorschlag von Google Maps ist grundsätzlich der bessere als der von Adventure Cycling Association, welche das Kartenmaterial für die Tour entworfen hat. Die hätten uns nämlich auf die lebensgefährliche 4-spurige Autobahn ohne Seitenstreifen gelotst. Google maps ist sicherer, aber nicht wirklich effektiv. Unsere Strasse endet in Brombeerbüschen und wir kommen hier einfach nicht weiter. Also noch einmal hoch die Strasse und oben rechts und noch weiter hoch – und immer schön mit 14 – 16 % Steigung und natürlich mit dem nun schon seit 3 Stunden andauernden Platzregen. Richtige Sturzbäche kommen uns in unserer Fahrbahn entgegen. Wir realisieren, dass wir keine Chance mehr auf die 15.00h Fähre haben und nun fahren wir nach meinem Gutdünken, welches ich mit Hilfe des GPS versuche herauszufinden. Es ist nicht einfach, im dichten Verkehr, auf steilen Strassen und auf einem richtig kleinen Display ohne Lesebrille den Weg zu finden (ja genau, ich brauche nun auch schon eine Lesebrille…) Und noch zwei Mal verfahren wir uns, weil wir bei der Navy-Base einfach ohne Ausweis nicht durch kommen. Also müssen wir einen grösseren Umweg in Kauf nehmen. Zu schade, denn ich habe ja schon zu Hause Lorin versprochen, in Bremerton schauen wir uns die riesigen Flugzeugträger an. Wir haben sie zwar von Weitem gesehen, aber leider sind wir nun nicht in der Stimmung noch eine Tour zu machen.

Bei der Fähre angelangt rennen die Kinder und Ariane mit ein paar Packtaschen auf die warme Toilette. Sie ziehen sich trockene Kleider an (es sind die Kleider aus dem Schmutzwäsche-Sack). Ich warte bei den Fahrrädern und friere mir im sehr starken Wind, aber wenigstens unter einer Brücke einen ab. Ich hole ein trockenes Shirt aus einer der Taschen und ziehe mich vor allen wartenden Autos um. Ich habe immer noch sehr kalt, aber mit trockenem Shirt ist es doch schon viel besser. Nun sollte ich einfach noch die Unterhose, die Shorts und vor allem die Schuhe wechseln können. Doch für das bleibt keine Zeit, Ariane und die Kinder kommen gerade rechtzeitig zum Verladen auf die Fähre. Heute sind wir nicht alleine, es steigen hunderte von Seahawk-Fans in die Fähre. Die Seahawks ist die Football-Mannschaft von Seattle. Heute ist ein Vorsaison-Spiel und alle wollen es sehen.

Auf der Fähre ziehe ich meine stinkenden und schmutzigen aber vor allem trockenen Kleider an. Die Schuhe lasse ich an, daran kann ich jetzt nichts mehr ändern. Auf der 1 stündigen Überfahrt nach Seattle frieren wir tüchtig, fürs Anstehen für einen warmen Kaffee haben wir keine Geduld, die Schlange ist viel zu lang. Wir essen noch alles was wir in unseren Taschen haben und freuen uns schon jetzt auf eine warme Dusche. Wir werden heute bei Alani und Dan übernachten – ja, wir werden bei ihnen bleiben dürfen bis wir nach Hause fliegen. Alani (ja genau, es ist die Alani, von welcher wir den Namen für unsere Alani haben und bei welcher wir vor 2 Jahren in San Francisco gewohnt haben) und Dan sind vor einem Jahr nach Seattle gezogen und hier können wir in ihrem grossen Haus wohnen. Alani, also die USAlani, fragt uns per SMS an, ob sie uns abholen soll bei diesem Wetter. Seattle kriegt von den amerikanischen Grossstädten am meisten Regen, aber in den letzten 3 Monaten hat es nicht mehr geregnet, es war viel zu heiss und der heutige Regen ist zwar willkommen, aber auch für diese Region ungewöhnlich stark. Wir sind sehr froh über das Angebot und bestellen sie zum Fähr-Terminal, damit sie wenigstens die Kinder und unser Gepäck transportieren kann. Die Bikes sind zu Gross für ihr „normales“ Auto und Ariane und ich müssen uns noch einmal überwinden in den Regen zu gehen.

Wir finden Alani schnell und nach der kurzen Begrüssung und dem Verladen der Kinder und des Gepäcks fahren Ariane und ich los, durch eine weitere Grossstadt auf dem Velo. Mir ist urplötzlich nicht mehr kalt und ich schwelge in Erinnerungen. In dieser Stadt war ich schon 3 Mal, im 1994 während zwei Monaten, als ich hier zur Schule ging um ein bisschen Englisch zu lernen. Das war auch die Zeit, in der ich mit Alani und ihrer Schwester, Sophia, zwei sogenannte „Host“-Schwestern hatte. Ich fühle mich sofort wie zu Hause und rufe immer wieder zu Ariane zurück was sie wo sehen kann. Mit meinem kleinen GPS-Gerätchen finden wir auf Anhieb zu Alanis und Dans Haus und kommen durch und durch nass vor ihrer Haustüre an. Die Kinder sind schon geduscht, sitzen vor den Flammen im Cheminee-Ofen und trinken eine heisse Schokolade. Wir begrüssen Dan nur ganz kurz und verschwinden sofort unter der heissen Dusche. Wow tut das gut!

Anschliessend wird noch richtig „Hallo“ gesagt, eine Tasse Kaffee ist auch schon bereit und wir dürfen sofort unsere eigene Pizza kreieren. Jedes von uns macht eine ziemlich grosse Pizza, es wird wie hier so üblich, wieder einmal viel zu viel sein. Aber fein ist es und sehr gemütlich am grossen Tisch. Das Haus der beiden ist wunderschön (es ist nur gemietet) und wir dürfen uns in der umgebauten Garage – mit grossem TV, einem Futon-Bett, dickem Bodenteppich etc. breit machen. Ariane wäscht sofort unsere Wäsche, die Kinder schauen irgendwelchen Film und ich helfe hier und da. Ach wie schön ist es doch, nach einem solch nassen Tag ein trockenes Bett zu haben.

Unsere Tour ist nun vorbei, sehr schade eigentlich. Wir wären sicher noch gerne weiter geradelt, andererseits freuen wir uns nun doch noch auf ein paar radelfreie Tage mit Besuchen bei meiner Host-Mutter und bei anderen Freunden und mit Shopping und Stadtbesichtigung. Auch muss ich noch die Velos packen und und und. Wir haben wieder einmal eine tolle Tour machen können, viel Erlebt und sehr viele nette und freundliche Leute kennen gelernt. Im Moment ist es für mich noch etwas zu früh, einen Gesamtrückblich zu machen – irgendwie ist mir noch nicht wirklich bewusst, dass es doch schon wieder vorüber ist. Aber ich melde mich wieder und mache sicher noch einen kurzen Rückblick. Wahrscheinlich werde ich auch noch ein paar Sachen über unsere Tage hier in Seattle schreiben – lasst euch überraschen.

Vielen herzlichen Dank all jenen, welche uns via Gästebuch immer wieder eine Nachricht hinterlassen haben. All jenen welche uns eine Email oder ein SMS geschrieben haben und einfach all jenen, welche uns im Hintergrund auf unserer Website gefolgt sind. Auch wenn das Schreiben nicht immer einfach ist, es motiviert mich unheimlich, weiter zu machen wenn ich weiss, dass da jemand gerne liest was wir immer so erleben. Und vor allem haben auch wir wieder ein neues, eigenes Tagebuch, welches wir gerne immer mal wieder lesen werden. Schade, dass ich diesmal die Fotos nicht habe raufladen können, aber an vielen Orten haben sie es langsam gemerkt und das Uploading von Bildern gesperrt. Ich werde dies spätestens dann zu Hause nachholen. Und jetzt bin ich todmüde, ich melde mich wieder. Vielen Dank euch allen und ich wünsche allen ein gutes Wochenende!