07.08.2015 Oak Harbor – Port Hadlock, 60km

Anita, Keith und Taylor – wir haben schon viele unglaubliche Hosts erlebt. Wir wollen nicht werten und wir sind über alle Hosts sehr froh und allen sehr dankbar. Was wir von diesen Hosts in diesem Moment erlebt haben, das ist wunderbar und einfach nur unglaublich. Keith hat gestern Abend noch extra für uns ein Bett inklusive Bettgestell vom oberen Stockwerk zu uns in den „Keller“ gezügelt und zusammen geschraubt. Eine Selbstverständlichkeit, dass er dieses auch noch richtig eingebettet hat. Keller tönt übrigens etwas sehr ungerecht, es ist der untere Stock welcher momentan renoviert wird aber für unsere Bedürfnisse mehr als top ausgebaut ist.

Heute Morgen riechen wir bereits den herrlichen Duft der frisch zubereiteten French-Toasts. Und so können wir nicht lange widerstehen und lassen uns bald schon in der Küche zeigen. Der Kaffee steht bereit und ein ganzer Stapel voller French Toasts ist zum Verzehren warm gestellt. Keith ist noch hier und trinkt seine Morgenmilch, Rob der Engländer plant mit ihm noch seine heutige Route und Anita tischt uns einen wirklich voll beladenen Frühstückstisch auf. Welche Herzlichkeit dürfen wir hier erfahren – einfach unglaublich. Frische Früchte, Aprikosen-Honig direkt vom Farmers-Markt, Ahorn Sirup aus Kanada, Orangensaft und eben der Stapel mit ca. 20 French Toasts steht bereit. Wir lassen es uns schmecken, ich verzehre gefühlte 100 French Toasts – ich werde sicher zu Hause in keine Hose mehr rein passen. Zum Glück machen wir Aktiv-Ferien, da können wir wenigstens wieder ein paar Kalorien abradeln 😉

Als erstes verabschiedet sich Keith, welcher heute der einzige ist, der zur Arbeit muss. Er hat die Stelle hier erst vor Kurzem angetreten und hat sage und schreibe 2 Tage Ferien im ersten Jahr. Nach dem ersten Jahr darf er unheimlich lange Urlaub machen, gerade mal 1 Woche. Ich getraue mich nicht, ihm zu sagen wie das bei uns zu Hause funktioniert. Er ist ein stiller aber sehr netter Host.

Bald darauf macht sich Rob, der Engländer, bereit für seine Abfahrt. Er will heute noch Seattle erreichen, um 17.00h wird er eine Kollegin treffen, bei der er während den nächsten Tagen wohnen wird. Er muss noch seine letzte Arbeit beenden, bevor er seine ca. 2 Jahre dauernde Reise in den tiefen Süden von Chile so richtig ohne Druck geniessen kann. Er ist ein wirklich guter Kerl, so nett und höflich und doch so einfach und unkompliziert. Am besten gefällt mir einfach sein Velotrikot vom Velokurier Bern, welches er auch heute voller Stolz trägt. Ich glaube ich könnte einige Tage mit ihm radeln – sein trockener Humor und seine Art gefallen mir. Rob – alles Gute auf deiner Reise und pass auf dich auf!

Die Familie Ritschard braucht etwas länger um sich vom ach so bequemen Leben in einem Haus zu trennen. Wir beladen gemütlich unsere Fahrräder und sehen in den Tannenspitzen, wie der Nebel von der Küste her ins Landesinnere drückt. Wir kennen Anita nun erst seit ein paar Stunden, und doch ist die Verabschiedung sehr herzlich und wir haben das Gefühl, dass wir sie schon seit langer Zeit kennen. Unglaublich, wie oft wir hier so herzlich in eine Familie aufgenommen werden und von der ersten Minute an das Gefühl haben, einen Teil dieser Familie zu sein. Ist es die Art wie wir aufgenommen werden oder ist es unsere Art wie wir diesen Leuten begegnen? Ich weiss es nicht, ich kann nur sagen wenn ich irgendwo in der Schweiz zu einem mir fremden Haus gehe um etwas nachzufragen oder eine Information abzuholen bin ich viel angespannter als wenn ich hier zu einem mir völlig unbekannten Haus fahre und weiss, dass ich hier die nächste Nacht verbringen werde. Wahrscheinlich sind wir hier einfach frech genug um einfach hin zu gehen und uns helfen zu lassen. So oder so, diese Erfahrung ist einmalig und zeigt einem einmal mehr, dass wir zu Hause von den USA ein total einseitiges Bild zu sehen kriegen. Die meisten Leute hier sind hilfsbereit, nett und freundlich. Obschon auch diese meinen, rund herum sind alles nur verrückte und bösartige Menschen – crazy world.

Heute fahren wir ohne richtiges Ziel einfach mal los. Und das ist etwas, was wir nicht wirklich kennen und was wir heute auch negativ zu spüren bekommen. Wir haben unsere Touren zum vornherein praktisch nie von Tag zu Tag durchgeplant. Wir kennen immer unsere Route, aber wo wir schlafen werden, das entscheiden wir meistens ein bis drei Tage zum Voraus. Nicht so heute – wo finden wir einen Campingplatz? In welche Richtung soll es gehen? Wie weit fahren wir? Auf welcher Strasse geht’s lang? Fragen über Fragen und es ist eine tolle Vorstellung, wenn man sagen kann – einfach mal los fahren. Obschon wir das auch gerne machen möchten – es ist dennoch nicht unser Ding. Vor allem mit den Kindern sollte man schon wissen, wo wir nächste Nacht unser Zelt stellen etc. Denn die Frage kommt bald einmal und es ist immer gut, wenn man eine konkrete Antwort geben kann. Heute sagen wir einfach, wir fahren mal zur Fähre…

Wir befinden uns nämlich auch heute auf einer Insel – Whidbey Island. Wir fahren die ersten paar Kilometer im pazifischen, kalten Nebel. Es fröstelt uns ziemlich auf den Abfahrten, aber auf den kurzen Aufstiegen können wir uns wieder genügend bewegen, so dass wir wieder warm haben. Es ist nicht einfach zu entscheiden, welche Kleider wir an- resp. ausziehen. Doch bald drehen wir etwas von der nordwestlichen Küste ab und kommen an eine prachtvolle Bucht, dort wo die Sonne schon richtig warm scheint und uns schnell einmal ins Schwitzen lassen kommt. In der Ferne sehen wir den Vulkan Mt. Baker und südlich ganz weit weg bereits den bekanntesten der Vulkane hier im Nordwesten, Mt. Rainier. Nach einer guten Stunde stehen wir am Fährhafen und warten auf die nächste Fähre. Wir haben keinen einzigen Fahrplan studiert, aber bereits 10 Minuten später können wir die Fähre als erste besteigen und noch einmal 10 Minuten später stechen wir bereits in See. Die Überfahrt dauert ca. 30 Minuten und wir geniessen die Aussicht auf die umliegenden Berge vom Mt. Baker über Mt. Rainier zu den Olympic Mountains. Herrlich!

In Port Townsend sind wir wiederum die ersten welche an Land gelassen werden. Das schöne Städtchen im viktorianischen Stil gefällt uns sehr. Wir fahren die Main-Street einmal hoch und einmal runter. Während ich mit Lorin im Sportgeschäft einen Ersatz für seine verlorene Sonnenbrille suche (er hatte eine so schöne Sonnenbrille – wir sind alle so traurig über den Verlust) plaudert Ariane mit einem jungen Einheimischen über die Fahrradrouten in der Umgebung. Er gibt uns wertvolle Tips und ruft sogar in einem State Park an, ob sie einen freien Campingplatz für uns haben. Ok, wir wissen nun, wo wir heute Nacht sein werden – toll. Im Subway essen wir noch feine Sandwiches (wir lieben alle den Subway) bevor wir die Stadt verlassen. Schon kurz nach der Stadt fahren wir auf den sehr neuen Trail für Fussgänger, Reiter und Radfahrer. Herrlich, wir können auf einem alten Bahntrasse fahren, keine allzu steilen Steigungen und weg vom Verkehr. Schon auf diesem Trail werden wir über die Weiterfahrt nach dem Trail informiert – man will uns heute einfach helfen. Und kaum verlassen wir den Trail – wir haben ihn noch nicht verlassen um es genau zu nehmen – hält ein Wagen vor uns und ein grauhaariger Mann steigt aus. Er sei einer der Designer dieses Trails und könne uns gerne Informationen über die Weiterfahrt geben. Er gibt uns detaillierte Infos wo wir lieber nicht fahren sollen und wo es am besten ist. Leider haben wir kein geeignetes Kartenmaterial, aber er werde es uns innerhalb der nächsten 2 Stunden per Email zukommen lassen. Ok, vielen Dank und wir wissen nun wo es weiter geht…

An der nächsten Tankstelle kaufen wir uns noch Getränke für den Abend ein und schon wieder unterrichtet uns ein pensionierter Mann über die Todesstrasse, welche wir unbedingt vermeiden sollen. Die Kinder haben schon fast den halben Laden ausgeräumt, ich kann mich von dem Mann kaum trennen. Man will ja nicht unhöflich sein und lässt einem die gleiche Geschichte zwei, drei Mal erzählen. Während dem Verstauen der gekauften Sachen wird noch einmal das Gleiche Ariane erzählt – hier heisst es nicht „doppelt hält besser“, hier heisst es „fünffach hält besser“! Trotzdem, die Hilfsbereitschaft ist einfach unglaublich. Nun fahren wir auf der bisher wahrscheinlich 8fach erzählten Strasse weiter und biegen schon bald in einen ziemlich heftigen Aufstieg ein. Wir kommen nicht weit. Der Mann, welcher uns die elektronischen Karten versprochen hat, hält vor uns an und drückt uns eine kurzerhand eingekaufte und bereits markierte Karte in die Hände. Es hat ihn beschäftigt und eine Papierkarte sei immer noch besser als die elektronischen Dinger. Unglaublich, heute kümmern sich alle um uns. Vielen Dank und jetzt sind wir noch besser ausgerüstet.

Der Aufstieg lässt uns noch einmal ziemlich schwitzen und zuoberst sind wir froh, das braune County Park Schild zu sehen. Ich mache einen Witz und sage „da ist kein Zelt drauf, hier gibt es keinen Zeltplatz“. Die Kinder zappeln und schauen mich fragend an – „nur ein Witz…“ Doch nach einer kurzen und steilen Abfahrt erscheint ein „no camping“ Schild. Ja was denn??? Ok, hier neben der Strasse darf man das Zelt nicht stellen, hinten im Park wird der Camping kommen. Doch oje, weit und breit nichts zu sehen. Ich halte ein entgegenkommendes Auto an und frage, ob da hinten ein Campingplatz kommt. „No, no, there is no campground – only day use“. Und jetzt??? Wir stehen da wie die absoluten Anfänger, Rabeneltern und nicht fähigen Routenplaner. Die Kinder wollen es nicht wahr haben und sagen, dass sie auf keinen Fall weiter fahren wollen. Schon gar nicht weitere 30 Meilen (48 Kilometer), wie ich auf der Karte feststelle. Doch nach einigem Suchen und Forschen, finden wir doch noch irgendwo einen Hinweis und ich telefoniere kurz, um nachzufragen ob noch Plätze im ca. 10 Kilometer entfernten County Park vorhanden sind. Ich erhalte eine wirklich nette Auskunft und vor allem freut uns, dass es dort Hiker/Biker (Wanderer/Fahrradfahrer) Plätze gibt, welche erst noch 50% günstiger, also nur 10 US$ kosten. Wir sind alle beruhigt, dass es doch nicht mehr 50 Kilometer weiter geht und fahren direkt auf diesen schönen County Campingplatz. Wow, es musste wohl so sein. Wir finden hier erst einmal einen unheimlich netten Camping Host, welcher uns sehr lieb willkommen heisst. Zweitens einen tollen Platz mit atemberaubender Aussicht auf die Bucht und vor allem auf den super gut sichtbaren Mt. Rainier und drittens ist es hier nicht überfüllt und sehr ruhig. Was wollen wir mehr? Da sind wir gerne umsonst den steilen Hügel hinauf und wieder hinunter, einige Kilometer zurück und in entgegengesetzte Richtung gefahren – hier haben wir einen tollen Platz.

Wir stellen das Zelt auf und richten es ein. Lorin packt den Kocher aus und managt die Küche und nun werden wir wieder angesprochen. Ein Archäologie-Professor spricht uns in französischer Sprache an und erzählt uns über seine Jahre in der Westschweiz. Er erzählt und erzählt und schwärmt und schwärmt – die Teigwaren hat Lorin schon ganz alleine fertig gekocht – und er erzählt und schwärmt. Höflich wie wir sind plaudern auch wir mit ihm und es ist auch interessant. Doch der Hunger und die Kinder sind ungeduldig – und die Teigwaren werden schon wieder kalt. Wir tauschen noch kurz die Adressen aus und nun widmen wir uns unseren Teigwaren und der Flasche Rotwein, welche wir hier im alkoholfreien Countypark nicht ausschenken dürften. Doch in einem Papiersack versteckt wird es wohl niemand merken. Ungestört geniessen wir unser Essen und Trinken.

Schon bald darauf kommt R.C. – der Archäologe – wieder und erzählt uns etwas über die hier ansässigen Vögel. Er zeigt uns in seinen Vogelbüchern die Bilder zu den Vögeln und erzählt uns die ineteressantesten Geschichten wie weit die Vögel im Jahr fliegen, wie sie Jagen und wo sie nisten. Das Licht über der Bucht wird immer schöner und wir hören aufmerksam den Erklärungen von R.C. zu. Zudem bringt er uns eine Gallone voll aufbereitetes Wasser, welches uns morgen viel Kraft geben wird – mehr als dieses Gatorate-Gesöff. Mal schauen, wir werden es ausprobieren.

Kaum sind wir mit dem Gespräch fertig, erscheint der Camping-Host. Er interessiert sich für unsere Bikes und ich sage ihm, er solle doch eines ausprobieren. Ich pfeife Alani vom Spielplatz, sie solle sich doch vorne drauf setzen. Er macht eine kleine, wackelige Runde um den Zeltplatz und ist ausser Atem. Wohlgemerkt, mit einem NICHT-beladenem Fahrrad und mit der Hilfe von Alani. Er kann es nicht glauben, welche Touren wir bereits mit den Velos gemacht haben. Wir plaudern und plaudern – Ariane hat schon alles abgewaschen und das Abendlicht wird in der Bucht immer schöner. Also, wir wollen noch kurz runter an den Strand. Wir lassen R.C. und den Host hinter uns und fahren runter – Lorin rennt direkt zum Sand und baut eine Sandburg, während ich wahrscheinlich 1‘000 Fotos vom immer schöner beleuchteten Mt. Rainier und der Bucht mache. Wow, nun sitzen wir auf einem angeschwemmten Baumstamm und geniessen die Ruhe und vor allem die Aussicht. Einmalig!

Kurz nachdem die Sonne doch hinter uns unter gegangen ist, fahren wir wieder zu unserem Platz und kochen Kaffeewasser. Und nun kommt wieder ein Nachbar und will alles über die Fahrräder wissen. Doch schon bald erzählt er mir über sein Leben, seine über 80 jährige Mutter und seinen Stiefvater mit dem Fischerboot. Die beiden leben oben in Kanada, genau 1‘056 Meilen von seinem Wohnort entfernt. Und diese Strecke fährt er mit seinem Motorrad in 1‘086 Minuten. Er hat in den letzten Monaten das Boot seines Stiefvaters, welches 1988 gekauft und seither nicht gepflegt worden ist, wieder flott gemacht. Alles aus Teak-Holz etc. etc. etc. Ich könnte noch viel aufschreiben, aber ich glaube doch, dass ich den Schlaf irgendwie besser brauchen kann 😉 Aber auch hier, ich will mich nicht Lustig machen, ich will nur erzählen wie lieb die Leute sind und wie gerne sie ein Gespräch beginnen. Heute wird es mir einfach ein kleines Bisschen zu viel…

Den nun etwas kühl gewordenen Kaffee geniessen wir doch noch – und jetzt taucht wieder der Camping-Host aus der mittlerweile gewordenen Dunkelheit auf. Er entschuldigt sich für die Störung, aber er will uns die noch heissen Cookies, welche seine Frau gerade im Wohnmobil gebacken hat, rüber bringen. Wir hätten sie verdient, sagt er und verschwindet gleich schnell wie er aufgetaucht ist. Wow, so leckere Cookies haben wir schon lange nicht mehr gegessen. Die Kinder sagen uns nur, lasst uns noch einige für morgen übrig.

Tja, und schon habe ich wieder viel zu viel vom Tag geschrieben. Immer und immer nehme ich mir vor, nur 5 – 6 Zeilen vom Tag zu schreiben, es ist ja nicht viel passiert. Aber genau das ist ja das Interessante. Während dem Schreiben kommen so viele Erlebnisse vom Tag wieder hervor – eine tolle Verarbeitung des Erlebten. Und jetzt ist bereits wieder Mitternacht, morgen wollen wir um halb sieben aufstehen. Ariane und ich haben nämlich die morgige Route geplant, so dass wir wieder ein Ziel vor Augen haben. Geht es wohl in Richtung Süden oder weiter in Richtung Westen? Lasst euch überraschen und gebt euren Tipp doch im Gästebuch ab… Tschüss und schlafet guet, resp. ä schöne Tag!

PS:  by the way, heute haben wir die 1’000km Marke überschritten