09.08.2015 Sequim – Elwha Dam RV Park, 38 km

Ein Tag mit Emotionen, Müdigkeit und einem Kind mit einem riesige Schock! Aber beginnen wir mit dem Morgen. Der Wecker klingelt, ich bin müde und will nicht aus dem Bett. Die Nacht war einmal mehr relativ kurz, ich habe zu lange an dem Bericht geschrieben und vor allem viel zu lange versucht, einmal wieder Fotos rauf zu laden. Aber ich will das ja so und ich würde mich zu fest aufregen, wenn ich mit unseren Tagesberichte ins Hintertreffen kommen würde. Es ist ja unser Tagebuch und wir werden es in Zukunft von einige Male durchlesen und dabei Schmunzeln und hoffentlich ins Schwärmen kommen. Der Hauptgrund wieso ich nicht so motiviert bin aufzustehen liegt aber anderswo.

Uns ist seit einigen Tagen bewusst, dass wir die Route, wie wir sie ursprünglich geplant haben, nicht zu Ende fahren können. Eigentlich nicht weiter schlimm, denn mit diesem Gedanken haben wir uns auch schon zu Hause beschäftigt. Doch die emotionelle Seite in uns hat uns seit zwei Tagen immer noch in Richtung Westen getrieben, in der Hoffnung, den offenen Pazifik, die wunderbaren Strände und den schönen Regenwald doch noch zu sehen. Wir haben uns immer vorgenommen, bereits in Port Townsend zu entscheiden was zu entscheiden ist. Entweder die Route rund um die Olympic Halbinsel weiter zu verfolgen oder aber bereits hier in Richtung Süden, also Seattle weiter zu fahren. Wenn man nämlich in Port Townsend nach Westen fährt, dann muss man entweder die gleiche Strecke wieder zurück fahren oder man fährt eben um die ganze Halbinsel herum. Im Nationalpark gibt es keine Strasse von Ost nach West, nur Strassen die in den Park führen und am gleichen Ort wieder raus. Über diese tollen und hohen Berge eine Strasse Ost – West zu bauen wäre einerseits kaum möglich und andererseits würde es den Gedanken der Nationalparks zerstören. Ok, langer Rede kurzer Sinn – wir sind nun zwei Tage in Richtung Westen gefahren und wollen eigentlich nicht mehr die gleiche Strecke zurück fahren. Andererseits wissen wir genau, dass wir zu wenig Zeit übrig haben, um die Halbinsel zu umrunden. Hier müssen wir auch sagen, dass wir auf jeden Fall planen, ein paar Tage in Seattle bei Freunden zu verbringen. Wir könnten dies alles abblasen und unsere Tour wie geplant weiter fahren, aber wenn wir nun schon einmal hier im Nordwesten in der Nähe unserer Freunde sind, dann möchten wir das Treffen mit ihnen nicht missen. Wir sind also emotional total hin und her gerissen.

Ok, wir stehen doch noch auf, packen unsere Sachen und gehen nach vorne zu Lonnie’s Outdoor-Küche. Der Kaffee ist bereits warm und wir können uns nur noch die Zutaten zu unserem Frühstück zusammen sammeln. Im Kühlschrank von Lonnie stapeln sich allerlei Lebensmittel. Wir wollen die Verfalldaten gar nicht wissen, alles was schmeckt soll nicht hinterfragt werden. Zufälligerweise ist mein Blick gestern auf das Verfalldatum das Mayonnaise-Glas gefallen und ich habe sofort wieder weg geschaut. Die 2013 ist zwar im Kopf geblieben und doch haben wir alle von dieser Mayonnaise in die Hot-Dogs gestrichen – und das nicht zu wenig. Wir haben auf jeden Fall noch keine Magenkrämpfe gehabt. Ich bin froh, haben die ca. 60 Eier die sich in einem Eimer stapeln kein Datum aufgedruckt, so können wir ohne schlechtes Gewissen unsere Spiegel- und Rühreier kochen und geniessen. Wie schon gestern angetönt, Lonnie ist ein so liebenswürdiger und hilfsbereiter Mensch, da soll man nicht alles hinterfragen. Wären alle Menschen so wie er, die Welt wäre fast ein Paradies…

Kurz nach 10.00h verabschieden wir uns von Lonnie, nicht ohne einen tollen Beitrag in seinem Gästebuch zu hinterlassen und ein Foto zu schiessen. Und wir fahren auch heute wieder in Richtung Westen, obschon wir wissen, dass dies ohne weitere Hilfe zu keinem Ende führen wird. Port Angeles ist ca. 12 Kilometer weiter und wir erreichen diese Hafenstadt auf dem schönen Radweg, dem Olympic Discovery Trail. Ohne motorisierte Fahrzeuge und auch so praktisch ohne Fahrräder und Fussgänger fahren wir in die Stadt hinein. An der Küste unten machen wir noch ein paar Fotos von den grossen einfahrenden Frachtschiffen und geniessen die wärmenden Sonnenstrahlen. Es ist wieder frisch und auf den Abfahren fröstelt es uns ein bisschen. Auf den wenigen aber steilen Aufstiegen tropfen uns sofort die Schweisstropfen über das Gesicht. Kein Wunder gedeiht bei dieser Feuchtigkeit ein toller Regenwald. In Port Angeles sehen wir, dass nicht weit von hier der Visitor Center des Olympic Nationalparks ist. Wir sind schon zu weit gefahren, fahren also die Main-Street wieder zurück. Diese geht nun aber nicht wie der schöne Veloweg der Küste entlang, sie steigt ziemlich an und meine Laune sinkt auf einen tiefen Punkt. Wir erreichen die Strasse, an der wir rechts zum Visitor-Center abbiegen müssen. Und was liegt plötzlich vor uns? Eine lange ziemlich grob ansteigende Strasse in Richtung der Berge hinter Port Angeles. 1,5 Meilen sind es bis zum Visitor Center – sagt uns die braune Informationstafel am rechten Strassenrand. Vielen Dank für diese tolle Info, bedanke ich mich gedanklich und murkse meinen Lastesel immer weiter hinauf. Ariane und Lorin sind guten Mutes und bereits einige Meter vor uns – ansonsten hätte ich sie wohl ausgebremst, damit sie nicht mehr hätten weiter fahren können. Nun kommen wir noch an einige Kreuzungen mit Lichtsignalen. Ariane und Lorin erwischen die grüne Welle, Alani und ich die rote. Was soll ich noch dazu sagen, im Anstieg auf einer Kreuzung mit hinter dir wartenden Autos auf einem 125 Kilogramm schweren Velo (mit Alani) anzufahren, das kostet etwas an Energie – und heute auch an Motivation. Ich fluche geradewegs in mich hinein und verdamme in diesem Moment unsere ganze Tour in dieser ach so blöden Gegend. Genau, auch solche Gedanken gibt es auf einer lange ersehnten und geplanten Tour – und es muss sie geben. Aus einem Tief kommt man irgendwie schon wieder raus und dann kommt wieder ein Hoch, das dann umso schöner ist. Und ein emotionales Tief lässt einem auch wieder die unzähligen tollen Momente, welche man bisher erlebt hat, in Erinnerung rufen.

Bachnass und ziemlich schlecht gelaunt erreiche ich doch noch den Visitor Center. Wir schauen uns kurz um und sofort haben die Kinder auch schon das Büchlein für die Junior-Ranger-Prüfung abgeholt. Na das kann ja heiter werden, jetzt auch noch das – denke ich. Wir sollten hier wieder raus und noch einige Kilometer spulen, damit wir vielleicht doch noch die Halbinsel umrunden können. Die Hoffnung in mir gibt nicht auf, doch die Kinder sind mit solcher Begeisterung dabei, die Aufgaben im Büchlein zu lösen – da kann man nicht drängen. Nach ca. einer Stunde wird nun auch noch ein Film über den Park gezeigt, den wollen wir natürlich nicht verpassen. Und nach dieser weiteren halben Stunde werden die restlichen Aufgaben auch noch gelöst. Voller Stolz werden sie auch hier zum Junior Ranger geehrt – mit dem obligaten Ranger Schwur. Und jetzt geht es weiter…

Unterwegs sehen wir einen grossen Einkaufsladen – ach ja, wir sollten ja auch mal was Essen, Mittagszeit ist doch schon wieder vorbei. Jetzt erst merke auch ich, dass mein Magen nach etwas Kraftstoff verlangt. Also rein in den Laden und Einkaufen. Wenn man weiss wo man das gesuchte Zeugs findet, dann ist das eine Sache von ein paar Minuten. Auf unseren Touren aber haben wir schon vor langer Zeit festgestellt, dass jedes Einkaufen – falls es auch noch fürs Abendessen und vielleicht fürs Frühstück vom anderen Tag sein soll – mindestens eine halbe Stunde in Anspruch nimmt. Wir finden unsere Sachen und die Kinder wollen sofort ins Sandwich beissen. Ariane hat aber noch viel vor, sie möchte zum Campingplatz und dann runter ans Meer fahren, um dort zu Baden und unser Abendessen zu geniessen. Wir überreden die Kinder, die fehlenden ca. 10 Kilometer schnell noch mit leerem Magen zu fahren. Doch es stellt sich dann heraus, dass es mehr rauf als schnell geht… Na gut, wir erreichen den Campingplatz, ca. 15 Kilometer und ca. 130 Höhenmeter von der Küste entfernt dann doch noch. Ich hoffe nur, dass Ariane das mit dem Strand nun vergessen hat – ich bin hundemüde.

Wir erhalten hier ein herzliches Willkommen und einen schönen Platz. Die Laune hebt sich wieder, wir setzen uns vorerst einmal an unseren Tisch und essen unsere Sandwiches. Beim zweiten oder dritten Biss sind alle schlechten Gedanken von den vorherigen Stunden vergessen, ich geniesse das Essen und den Platz – was kommen wird, das beschäftigt mich momentan gerade nicht. Wir stellen das Zelt auf und gehen auf einen kurzen Spaziergang auf einem schönen Trail durch den mit dichtem Farn und Moos überwachsenen Regenwald. Von einem Aussichtspunkt sieht man auf eine Stelle, an der früher ein Damm zur Energiegewinnung gestanden ist. Diesen Damm haben sie nach ca. 60 Jahren Betrieb wieder zurück gebaut, so dass die Lachse wieder zurück an ihre angestammten Laichplätze kommen. Natürlich mussten die Lachse wieder ausgesetzt werden, aber aufgrund der nun wieder einsetzenden Lachswanderung finden auch wieder andere Tiere, welche z.T. vom Lachsfang leben, zurück in diese Berge.

Auf dem Rückweg mache ich noch ein paar Fotos und plötzlich höre ich einen unglaublich lauten, kreischenden und entsetzten Schrei. Was ist nun schon wieder, denke ich und bin sicher, dass Lorin Alani einen Streich gespielt hat. Doch das Gekreische geht weiter und ich verstehe etwas von einem Fuss – oha, irgendwo abgerutscht oder abgeknickt und nun den Fuss gebrochen? Ich beeile mich nun ein bisschen mehr um an den Ort des Geschehens zu kommen. Hier erfahre ich, dass Alani um die Ecke gekommen ist und ihr hier eine schwarze Schlange mit gelb-grünen Punkten einige Zentimeter vor ihren Füssen durchgeschlängelt ist. Ariane hat sie tatsächlich auch gesehen und sie muss zugeben, hätte Alani diesen Schock nicht gehabt und Ariane zum überlegten Beruhigen gezwungen, dann wäre Ariane selber ausgeflippt. Alani zittert am ganzen Körper, kann sich kaum beruhigen und quietscht immer noch als würde die Schlange noch aus ihren Socken hängen. Es ist aber nicht ein Herumgezicke, sondern wirklich ein Schock, welcher ihr tief in den Knochen hängt. Sie ist diesbezüglich sowieso schon sehr ängstlich – und nun das…

Wir kommen dann doch noch zurück zum Zelt und Lorin und ich machen uns noch einmal mit dem Velo auf den Weg, um die 2 Kilometer zum kleinen Country-Store zurück zu fahren – bergauf natürlich. Im Laden werden wir von einer 16 jährigen Einheimischen angesprochen und sie fragt uns, ob wir Schweizer seien. Ja klar, sie habe ja sicher unsere Schweizerfahne am Velo gesehen. Nein, habe sie nicht, sie hätte unsere Sprache gehört und sie an die Schweiz erinnert. Ihre Mutter ist eine Zermatterin und sie sei auch schon ein paar Mal dort gewesen – darum. Ich staune sie an und frage sie, was eine Zermatterin in dieser Gegend hier denn zu Suchen habe. Doofe Frage, schiesst es mir sofort durch den Kopf, was wohl. Sie bestätigt meine nun zu Ende gesponnenen Gedanken. Ihr Vater natürlich… Der sei aber leider vor 5 Jahren verstorben, aber ihre Mutter wollte dennoch nicht zurück in die Schweiz. Und ihr gefalle Zermatt sowieso nicht wirklich – zu viele Touristen. Bezüglich der Touristen und der unaufhörlichen Bauerei in Zermatt kann ich ihr beipflichten, doch Zermatt ist doch irgendwie aus meinen Skifahrer-Jahren in mein Herz gewachsen…

Auf dem Campingplatz geniessen wir ein reichhaltiges Abendessen mit Teigwaren (ist ja wohl klar), Würstchen in einer Biersauce (selber gemacht – die Sauce meine ich), Chips, frischen Karotten und Wassermelone. Während ich hier im Dunkeln schreibe, sind Ariane und die Kinder immer noch vorne im Aufenthaltsraum und wahrscheinlich schauen sie sich dort einen Film an.

Und schon kommen wieder die unsicheren Gedanken – was machen wir morgen? Wie kommen wir auf einem schlauen Weg nach Seattle? Wo wollen wir übernachten? Schaffen wir es? Und dann in Seattle – wie komme ich zu Bike-Boxen und zum Packmaterial? Ach was, Ariane hat schon Recht – irgendwie klappt es dann schon. Und wie die Vergangenheit zeigt, eine Lösung findet sich immer. Und somit werde ich heute Nacht gaaaaaanz ruhig schlafen – hoffe ich 😉